In den letzten Wochen sind viele Gedanken durch meinen Kopf gewandert – zur Gesellschaft, dazu, wie diese mit kranken Menschen umgeht, zu meinem eigenen Verhalten und zu meinen Ängsten. Viele versuchen sich im Moment noch an die Corona-Regeln zu halten, oft mit der guten Absicht, den Virus nicht weiter zu verbreiten. Allerdings fast genauso oft recht gedankenlos. Andere haben auf- und dem Wunsch nach Alltag nachgegeben oder sich vielleicht auch nie an Abstände und dergleichen gehalten. Vielleicht haben sie größere, dringlichere Probleme. Vielleicht haben sie solche Angst, dass sie Corona als Ganzes verdrängen. Das lässt sich schwer sagen, ohne ins Gespräch zu kommen, aber gerade das fällt mir schwer im Moment. Also versuche ich hier einige Gedanken zu teilen und so vielleicht andere zu Gesprächen zu bringen.
Du musst draußen bleiben!
Nach und nach wurden immer mehr Geschäfte geöffnet, und im gleichen Ausmaß nahmen die Schilder zu, die an ihren Türen hängen. Vor dem Supermarkt werden nun große Tafeln aufgehängt, wer Fieber hat, Husten, Schnupfen oder schlecht Luft bekommt darf nicht hinein, auch, wer sich unwohl fühlt. Ich bleibe kurz stehen. Luft bekomme ich nie so richtig gut, meine Nase ist immer zu und Husten habe ich auch nicht selten. Soll ich trotzdem rein gehen? Wer hat dieses Schild wohl gemacht? Kennt die Person keine anderen Krankheiten als Corona? Ich ziehe die Maske über und gehe hinein. Ein Kratzen im Hals beginnt. Ich will nicht husten. Will nicht, dass mich alle skeptisch anstarren. Dabei schaue ich genauso, wenn andere husten. Warum nur? Habe ich solche Angst vor dem Virus, dass ich andere ablehne, die ihn haben könnten? Was macht das mit einer Gesellschaft, wenn alle misstrauisch sind und es zur Ausgrenzung von erkrankten Menschen kommt?
Komm mir bitte nicht zu nah!
Eine Frau beginnt einen Gang weiter herumzuschimpfen, eine andere Person ist ihr zu nahe gekommen. In meinem Kopf kämpfen zwei Seiten. Eine, die sich selbst über all die Menschen ärgert, die grundsätzlich zu nahe kommen und eine, die dieses Klima nicht mag und sich wünscht, dass sich Menschen wieder entspannt und frei begegnen können. Dann kommen wieder die Stimmen von all den Menschen und Ärzt*innen, die mir immer wieder gesagt haben: „Du musst aufpassen! Du bist Risikogruppe! Du musst Abstand halten! Es ist gefährlich für dich!“ Diese Stimmen höre nicht nur ich, sondern viele, und viele sind verunsichert und ich kann auch gut verstehen, dass eine*n das gereizt machen kann, und dass es Angst macht, so wenig zu wissen und dabei so viel zu „müssen“.
Wer ist für wen verantwortlich?
Also versuche ich, brav Abstand zu halten, zu den anderen Menschen, die einkaufen, zu jenen, die an mir vorübergehen, und zu allen, die dort arbeiten müssen. Warum bin ich brav? Warum sind plötzlich so viele „brav“, die sich sonst das Widerständige auf die Fahnen heften? In einer Krise sollen Menschen zusammenhalten. Aber wer hält hier zusammen, und entstehen dadurch nicht auch immer auch Ausschlüsse? Ist es nicht gerade jetzt wichtig, an den richtigen Stellen Kritik zu üben? Sich für jene einzusetzen, denen es mehr Kraft kostet? Grenzen werden geschlossen, Altersheime dürfen nicht betreten werden, und alle, die zur Risikogruppe zählen könnten sollen lieber gemieden werden.
Selbst- oder Fremdbestimmung?
Meine Oma rufe ich jetzt öfter an, auch meine Mama und viele meiner Freund*innen. Zum einen, weil diese alleine sind, aber auch, weil ich sie vermisse. Weil jetzt plötzlich viel Abstand zwischen uns liegt – da, wo Grenzen sind, scheinen sie tatsächlich unüberwindbar, und dort, wo keine sind, wirkt alles trotzdem plötzlich sehr weit weg. Meine Oma freut sich über die Anrufe, und sie ärgert sich, dass sie nicht gefragt wird, ob sie das Risiko von Corona eingehen will: „Ich sterbe sowieso in den nächsten ein bis fünf Jahren, da will ich Menschen sehen! Mir ist egal, ob ich Corona bekomme, aber mir ist nicht egal, ob ich einsam bin in dem bisschen Zeit, die ich noch habe!“ Mit dieser Meinung ist sie wohl nicht allein. Hier ist die Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben gefordert, aber dafür fehlen oft die Strukturen – Altersheime sind dafür unzureichend eingerichtet. Das gilt jedoch vermutlich für viele Einrichtungen, in denen Menschen gemeinsam leben. Selbst WGs stellt die Situation vor große Herausforderungen.
Was kann ich von anderen verlangen?
Nehmen wir an, in einer 5er-WG lebt eine Person, die zur Risikogruppe zählt und vier Personen, die zu jung und gesund sind, um sich zu ängstigen. Welche Einschränkungen können eingefordert werden? Was ist zu viel verlangt? Schon bei einer Zweier-Wohnsituation kommen diese Fragen auf. Was ist, wenn eine*r arbeiten muss? Wie kann mit gegensätzlichen Bedürfnissen umgegangen werden? Eine Person hält es nicht mehr aus, Freund*innen oder Familie nicht zu sehen und eine andere hat Angst vor jedem Kontakt und will sich zurückziehen. Sicher macht es Sinn, immer wieder miteinander zu sprechen, aber gerade, wenn es um Einschränkungen anderer geht, ist genau das oft schwer. Jetzt ist es wohl Zeit, langsam immer mehr Menschen zu sehen, aber auch da braucht es für mich (persönlich?Anm. mm) Regeln, um diese Begegnungen auch genießen zu können.
Wie sage ich das bloß?
Es ist für mich nicht leicht, Menschen, die ich sehr mag, nicht zu umarmen und von ihnen das gleiche zu verlangen. Es fühlt sich auch seltsam an, dass ich allen ein eigenes Handtuch gebe, die Flasche nicht teile und nicht zu nah sitzen will. Trotzdem brauche ich diese Verhaltensregeln jetzt noch, um mich mit anderen wohl zu fühlen. Manche sind von selbst aus achtsam, vielleicht, weil ihnen der Abstand auch ganz recht ist, oder weil sie darüber nachgedacht haben, oder weil sie Angst haben, mich anzustecken. Manchmal auch, weil wir darüber geredet haben. Gerade bei nicht so engen Freund*innen fällt mir das Darüber-Reden aber schwer. Weil es sehr persönlich ist, weil ich sagen muss, dass ich chronisch krank bin, weil ich Angst habe, dass sie mich für ein bisschen verrückt halten und weil ich grundsätzlich ungern etwas einfordere.
Abstand
Allerdings ist es auch so, dass ich zu Menschen, die wenig auf die allgemein empfohlenen Regeln achten, mehr Abstand brauche, und dort ist es dann umso schwerer, diesen auch einzufordern. Denn würden sie es genauso sehen oder für sinnvoll halten, würden sie sich ja ohnehin daran halten. Ich muss also etwas fordern, das sie für nicht so wichtig oder gar für sinnlos halten. Ich muss allerdings auch sehen, dass ich einen Vorteil habe, da ich in einer Beziehung bin, mit der ich auch zusammen wohne. Ich habe Nähe und ich habe Berührung und beides fehlt gerade vielen. Da ist es dann auch verständlich, nicht immer zu allen Abstand halten zu können. Manchen Menschen fällt es außerdem immer schwerer als anderen, das richtige Maß an Distanz zu finden. Was heißt das aber jetzt für mich? Diese Menschen einfach gar nicht zu sehen ist auch keine befriedigende Lösung.
Zur Einheit werden.
Viele WGs, Paare und Familien sind durch die Ausgangssperren, Abstandsregeln etc. zwangsweise stärker zu einer Einheit geworden. Wenn es gut läuft, dann heißt das, dass gut abgesprochen und gemeinsam entschieden werden kann, wie agiert wird, und dass Zeit da ist, sich miteinander zu beschäftigen und einen gemeinsamen Weg zu finden. Es heißt aber auch, dass Beziehungen und Familien einen höheren Stellenwert bekommen, da ich mich entscheiden muss, wen ich sehe und mit wem ich wohne. Ich stelle mir aber vor, dass es der reine Horror ist, wenn hier eine Zwangsgemeinschaft entsteht mit Menschen, mit denen es bereits vorher schwierig war. Stell dir mal vor, du wolltest dich gerade trennen von dein*er Partner*in, mit der du zusammenwohnst, und dann kommen die Ausgangsbeschänkungen und keine*r kann weg und ihr sitzt gemeinsam in der Wohnung fest. Oder mit Eltern, denen du sonst möglichst viel aus dem Weg gegangen bist, weil sie dir nicht guttun. Auch die angestiegenen Zahlen bei Gewalt gegen Frauen weisen darauf hin. Unter Krisenbedingungen mit Ungewissheit, Unsicherheit und mit mangelndem Ausgang spitzt sich hier sicher vieles zu. Dazu kommt noch, dass gerade Männer oftmals nicht gut gelernt haben, mit Stress und Konflikten umzugehen. Wie kann ich hier helfen? Wie kann ich diejenigen stärken, die es gerade brauchen?
Warum fällt mir die Decke nicht auf den Kopf?
Zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen haben meine Kolleg*innen Tipps ausgetauscht, wie sie sich beschäftigen könnten: Sport zu Hause, einmal am Tag spazieren gehen, Online-Vorträge besuchen, usw… In meinem Freund*innenkreis wurden Serientipps weitergereicht, und dennoch hab ich einfach nichts davon geschafft. Meine Tage waren weiterhin so voll wie immer, nur, dass ich eben von zu Hause aus gearbeitet habe, das Abendessen mit der Familie über Skype stattfand und ich keine Helfer*innen für meinen Umzug und die Renovierung der Wohnung hatte. Meine Tage sind nach wie vor so voll, dass es mir nicht schadet, wenn ich nicht auch noch ins Kino, zu einer Ausstellung oder einem Vortrag gehe. Zumindest für eine gewisse Zeit tut das sogar ganz gut. Auf Dauer sicher nicht. Auch den Freund*innen mit kleineren Kindern wurde absolut nicht langweilig. Sie waren ganz im Gegenteil vollkommen überlastet, weil Home-Office mit ein bis drei Kindern einfach unmöglich ist und weil jegliche Unterstützung weggefallen ist. Weder Freund*innen und Familie noch Kindergarten oder Schule konnten hier etwas übernehmen. Wie kann auch unter solchen Bedingungen Last besser verteilt werden? Macht es Sinn, sich zu widersetzen und die Kinder den Freund*innen abzunehmen und/oder diese einfach trotzdem zu sehen?
Privater Raum
Ein weiteres Glück, das ich habe, ist ausreichend Wohnraum. Ich kann mich, seit meinem Umzug, zurückziehen, habe einen Platz für Home-Office mit Videokonferenzen und einen Balkon zum Luft holen. Balkone sind in Wien schon selten, aber auch der Wohnraum ist für viele sehr beengt, und da ist dann nicht nur das Arbeiten schwer, sondern genauso, hin und wieder auf Distanz zu gehen. Wenn die Arbeit, Uni, Schule etc. jetzt auch zu Hause stattfindet, ist das Abgrenzen auch von diesen Tätigkeiten umso schwerer. In WGs und Familien wird der Kampf um unterschiedliche Ruhebedürfnisse mehr ausbrechen. Ganz schwierig wird es wohl für diejenigen, die keinen richtigen Wohnort haben, die sonst bei Freund*innen unterkommen, an wechselnden Plätzen schlafen oder auf der Straße.
Ruhezeit
Nur wer einen geeigneten Ort hat, kann sich dort auch ausruhen, kann die Zeit „zu Hause“ genießen. Nur wer genug Unterstützung hat, kann sich wohlfühlen. Durchaus aufgeatmet haben jene Freund*innen, die eigentlich ganz gerne alleine sind, die die es ohnehin als Stress empfinden, zu viel raus zu müssen, bzw. diejenigen, die ein sicheres Einkommen haben und nicht von der Angst überfordert wurden – diese konnten durchaus ausruhen. Ich bin über einen spannenden Artikel von Julia Pfligl im Kurier gestolpert, der mich zum Nachdenken gebracht hat. Unter dem Titel „Fear of going out: Die neue Angst vor dem alten Leben“ beschreibt sie, wie die Angst etwas zu verpassen in die Angst vor dem Rausgehen umschlägt. Die feministische Kulturwissenschaftlerin Beatrice Frasl gibt in diesem Artikel folgende Antwort auf die Frage, welche Reaktionen sie auf ein Posting bekommen hat, in dem sie beschreibt, dass die Ausgangsbeschränkungen auf die oben genannten Personen entlastend wirken: „Die Menschen, von denen ich Antworten bekam, empfanden das Wegfallen von professionellen und sozialen Verpflichtungen und Erwartungen als große Erleichterung. Es war okay, sich zurück zu ziehen, weil es alle taten. Viele berichten, dass sich der Rückzug wie ein natürlicher Modus anfühlt, dem sie endlich nachgehen konnten.“ [1] So ging es mir zum Teil wohl auch. Ich war zufrieden mit meiner Zurückgezogenheit und konnte die Angst, etwas zu verpassen, ablegen. Jetzt habe ich etwas Angst, wieder teilnehmen zu müssen.
Wie soll es weiter gehen?
Es ist gar nicht so leicht, wieder zurück zu finden zu „normalen“ Begegnungen. Zum einen, weil es immer noch kein Heilmittel gegen den Virus gibt, aber auch, weil die Distanz nicht einfach wieder aufzuheben ist. Zwischen heute und Anfang März haben sich zwar die Zahlen der Erkrankten geändert und die Länder, die besonders unter Corona leiden sind andere, aber eine Impfung oder ein gutes Medikament gibt es noch nicht. Und irgendwie irreal ist es auch weiterhin. Alle wissen noch viel zu wenig, um die Situation gut einschätzten zu können. Zumindest die Risikogruppen sollen weiterhin aufpassen. Da bleibt nur die Frage, wie diese weiter aufpassen können, wenn die Menschen um sie herum nicht mitmachen. Außerdem gibt es kaum Unterstützung von Ärzt*innen, weil diese selbst noch nicht mehr wissen und zurecht nichts Ungeprüftes raten wollen.
Zuspitzung der schlechten Zustände
Wenn ich so darüber nachdenke, spitzt sich gerade einfach viel zu, was schon lange als Problem vorhanden ist. Vereinzelung, mangelnder Raum für selbstbestimmtes Leben, ungleiche Belastung mit Reproduktionsaufgaben, Zuschreibung von Geschlechterrollen, fehlendes Abfangen von Existenzängsten, mangelnde psychologische/psychosoziale Betreuung, zu wenig guter Wohnraum, schlechte Arbeitsbedingungen, ungleiche Löhne, viele, die ständig unter Stress stehen, usw…
Gefahren, an denen ich sterben könnte, gibt es auch sonst immer, und doch setze ich mich vielen davon aus, weil ich ja auch leben will, und genau, weil ich an diesem Leben so hänge, bekomme ich jetzt Angst. Die Risiken beim Wandern abzustürzen oder von einem Auto angefahren zu werden sind Gefahren, mit denen ich aufgewachsen bin. Hier habe ich gelernt, mich möglichst gut zu schützen und mit dem Risiko zu leben, damit umzugehen und habe es für mich auch immer abgewogen. Corona ist neu und erfordert einen neuen Weg, den ich und alle anderen erst finden müssen. Jede*r für sich selbst und alle gemeinsam.
Zeit für eine solidarische, befreite Gesellschaft
Es ist Zeit, darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft aussehen kann, in der Lasten gleich verteilt sind, Zeit zum Verschnaufen bleibt und Ängste abgebaut werden können. In der nicht der Norm entsprochen werden muss, und in der Krankheit und Behinderung keine Gründe sind, abseits zu stehen. In der wir Rücksicht nehmen können, ohne uns zu viel einzuschränken, und in der Solidarität tatsächlich gelebt wird. In der wir frei genug sind, um Kritik zu üben, und um zu wissen, was wir brauchen und das auch einzufordern. In der wir frei genug sind, um auf andere zu achten und gemeinsam zu leben, ohne dabei als Einzelne unterzugehen. In der wir die Schwächsten zu Starken machen und in der alle eine Stimme haben, die etwas zählt und die ernst genommen wird.
Quelle
[1] Fear of going out: Die neue Angst vor dem alten Leben, Kurier.at (29.05.2020), URL: https://kurier.at/freizeit/leben-liebe-sex/fear-of-going-out-die-neue-angst-vor-dem-alten-leben/400865036 das ist die Quelle (abgerufen am 30.06.2020)