Naturbeherrschung und Ideologie

Eine ausschweifende Leseempfehlung zu „Antisemitismus und Sexismus“ von Karin Stögner

„Wo Natur bloß zur bearbeiteten Materie herabgedrückt wird, bedeutet mit ihr identifiziert zu werden ein Verdikt.“ (26) Mit diesem Satz fasst Karin Stögner in ihrer Studie „Antisemitismus und Sexismus“ prägnant den Dreh- und Angelpunkt ihrer materialistischen Kritik zusammen. Alle bisherige Vergesellschaftung war repressiv, Herrschaft über Natur, und in der aktuellen Gesellschaft sind Sexismus und Antisemitismus darauf fußende Ideologien. Stögner konstatiert, dass nicht zuletzt „mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert sowohl Frauen als auch Juden mit Natur identifiziert wurden“ (283) und so mehr als andere eher Objekte als Subjekte der Herrschaft wurden. Auf sie projizieren jene, die „Natur krampfhaft beherrschen“ (Adorno, zit. n. 26) Wünsche und Ängste. Sie können sie nicht zulassen, um „dem identischen und zweckgerichteten männlichen Selbst zu entsprechen“ (ebd.), und verfolgen sie deshalb an denen, die sie zum Clichée gemacht haben.

Auf dieser Grundlage der Kritik der Einteilung von Menschen folgt Stögner den Bildern von Weiblichkeit und Jüdischsein über die Zeit und analysiert deren Verstrickungen und Verschiebungen.
Nie geht es bei ihr um ein vermeintlich natürliches „Wesen“ der Frauen oder der Juden und Jüdinnen, immer um die Gedankenwelt der SexistInnen und AntisemitInnen und deren Fundierung in der Welt. In anderen Worten, um die Naturalisierung und damit die Legitimierung der beiden Ideologeme. Den Vergleich zwischen Antisemitismus und Sexismus zieht Stögner am Ende des Buches anhand der konkreten Erlebnisse von sechs jüdischen Frauen in Österreich, die sie interviewt hat. Ein allgemeiner Vergleich aber wäre, dessen ist Stögner sich stets bewusst, gerade vor dem Hintergrund der Shoah, eine Verharmlosung des Vernichtungswillens, der dem Antisemitismus, nicht aber dem Sexismus, immanent war und vor allem ist.

Aufklärung, die ans Geschlecht erinnert

Materialistische Kritik des Sexismus hat leider Seltenheitswert. Wer sich auf die Suche danach macht, was Sexismus genau meint und warum es ihn gibt, muss schnell feststellen, dass ein solcher entfalteter Begriff kaum existiert. Auch zur Frage der Verbindung, wie Sexismus die abstrakten Formen der falschen Gesellschaft mit der Kollektivierung in Geschlechter und ihren Rollen füllt und was er den SexistInnen bringt, wird es dünn. Anders beim Antisemitismus. Dessen Kritik ist zwar auch viel zu selten und viel zu dringlich, aber sie fußt auf einer längeren Tradition. Ihre Grundlagen wurden in den 1940er Jahren vor der Erfahrung des Nationalsozialismus gelegt.
Um die Frage zu beantworten, wie es sein konnte, dass die deutschen und österreichischen Massen sich dem Projekt der Judenvernichtung verschrieben statt Revolution zu machen, entwickelten Leute wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ernst Simmel oder Otto Fenichel die bis heute tragenden Fundamente aus der Synthese der Kritik der politischen Ökonomie, der Kritik der Kulturindustrie und der Psychoanalyse. Das aber ändert nichts daran, dass die nach wie vor zahlreichen AntisemitInnen drohen, ihren Wunsch nach dem Tod der Juden und Jüdinnen wahr zu machen und dies, wo sie nicht daran gehindert werden, auch regelmäßig tun.

Vergleichbare theoretische Arbeit hat es zum Sexismus nicht gegeben. „Im Zuge der Aufklärung wurde die Geschlechterbinarität nicht im gleichen Maß kritisch aufgegriffen wie die soziale Benachteiligung von Juden. Diese Leerstelle bot sodann die Möglichkeit der wirksamen Vermengung antisemitischer Diskurse mit dem Geschlechterdiskurs.“ (49) Stögner expliziert deshalb in ihrem Buch Aussagen der Kritischen Theorie zur Geschlechtlichkeit und zum Geschlechterverhältnis, die zu selten in den Fokus gerückt werden. Sie entschlüsselt einerseits die Vermengungen von Antisemitismus und Sexismus und dechiffriert andererseits die Herkunft der beiden Ideologien, die bei ähnlicher Grundlage und Funktion in ihren Auswirkungen sich doch ums Ganze unterscheiden.

Naturalisierung der Identität

Mit Horkheimer und Adorno geht Stögner von einem Naturbegriff aus, der „nicht auf eine Vorstellung ‚ursprünglicher‘ Natur“ rekurriert und „an keiner Stelle vorgesellschaftlich […], sondern als verstrickt in die gesellschaftlich-hostorische Dialektik von Fortschritt und Regression, Aufklärung und Mythos“ (23) gedacht ist. Vor diesem materialistischen Hintergrund greift sie Themen auf, die ansonsten eher aus dem postmodernen Feminismus bekannt sind: Repräsentation und Alltagsbilder. Mit Marx legt sie etwa dar, wie Waren- und Geldfetisch entstehen – also die Erscheinung des Wertes als natürliche Eigenschaft – und wie das Geld als „das Abstrakte, das Zeichensystem schlechthin“ (116) mystifiziert wird. Es wird mit einer Sinnlichkeit aufgeladen, der zugeschrieben wird, Disziplin, Eindeutigkeit und Volkstum durch „jüdisch-demokratisch-feministische[n] Mammongeist“ (Ludwig Langemann, zit. n. 118) zu untergraben. „Die dem Geld zugesprochene Sinnlichkeit kristallisiert sich sowohl im Bild des ‚Geldjuden‘ als auch in dem der ‚Hure‘.“ (119) Im Fin de Siècle fand sowohl in den moralisierenden und projektiven Diskursen über die Prostitution wie im rassistischen Antisemitismus eine „‚Wiederbeleibung‘ der im Abstraktionsprozess desinkarnierten Zeichen“ (ebd.), des Geldes, statt. Die Prostituierte wurde und wird das unerkannte täglich Brot aller, der Verkauf der Arbeitskraft projiziert, der als Verkauf der Person missverstanden wird. So tritt die Prostituierte „als Verkäuferin und Ware zugleich in Erscheinung“ (121) und verwischt dadurch die Grenzen der getrennten Geschlechtersphären. „Was sich nicht einordnen lässt, sich dem Identitäts- und Definitionszwang widersetzt, wirkt penetrant, ist verdächtig und birgt die Gefahr, die hart erworbenen und fest gefügten Grenzen aufzulösen.“ (87) Diese aber sind Grundlage für die krampfhafte Beherrschung der Natur. Deshalb ist „das Bedürfnis nach Einheit, Eindeutigkeit und Ordnung für Antisemitismus und Sexismus grundlegend“ (ebd.). Andere Bilder, an welchen Stögner Antisemitismus und Sexismus analysiert, sind die „schöne Jüdin“, die „Jewish American Princess“ oder die Darstellung von NS-Täterinnen als „singuläre Monstren“ (228).

Bekanntes neu betrachtet

Manches Bekannte rückt Karin Stögner in ein neues Licht. Zuweilen erschrickt man beim Lesen vor der eigenen Bildheit für Offensichtliches: Die „Feminisierung des Faschismus“ (221) nach 1945 etwa diente dazu, sich durch die Identifikation des Faschismus mit dem untergeordneten Weiblichen selbst darüber erheben und also davon distanzieren zu können. Stögner zeigt diese offensichtliche Feminisierung in einem der bekanntesten Sätze Bertolt Brechts: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“. (223) Und das, was heute als Sexismus in der Werbung verhandelt wird, erfasst Stögner mit einem Zitat von Walter Benjamin: „Unter der Herrschaft des Warenfetischs tingiert sich der sex-appeal der Frau mehr oder minder mit dem Appell der Ware. […] Die moderne Reklame erweist von einer Seite, wie sehr die Lockungen von Weib und Ware mit einander verschmelzen können.“ (121)

Die Stärke des Buches liegt darin, nicht nur ein wissenschaftliches Werk zu sein, sondern anknüpfend an offene Fragen und Erlebtes mit theoretischer Fundierung aufzuklären. Bei Karin Stögner füllt sich die abstrakte Form sogleich historisch konkret. Das Buch arbeitet nicht isoliert an den Begriffen des Sexismus und des Antisemitismus, sondern ist grundlegende materialistische Gesellschaftskritik, die zudem sprachlich Freude macht.

Nikolai Schreiter

Karin Stögner (2014): Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden-Baden: Nomos-Verlag, 330 Seiten, 49,- Euro.

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