Eine Einleitung zu Antisemitismus und Geschlecht.
Antisemitismus und Geschlecht sind zwei zentrale Elemente moderner Herrschaftsverhältnisse. Während alles eigene Weibliche – Passive, Sinnliche, Verletzliche etc. – zumeist verdrängt wird, soll es im Außen tendenziell absoluter Kontrolle und Verfügbarkeit unterliegen. Nur so ist die strukturell-männliche Subjektform möglich. Funktional, instrumentell-rational, imaginär autonom und souverän. Real bleibt diese libidinös und reproduktiv vom Weiblichen abhängig und den gesellschaftlichen Zwängen und Prozessen gegenüber ohnmächtig.
Individueller und qua Identifikation kollektiver Narzissmus wird damit zu einem konstitutiven Moment. Sicherheit, Macht und Glück werden in imaginierten Kollektiven gesucht – im Postnazismus vor allem in Volksgemeinschaft und Umma sowie in ihren familiären und sonstigen Keimformen. Deren (verinnerlichte) Zwänge und Zumutungen passen nicht recht zum narzisstischen Ideal der harmonischen Gemeinschaft und werden dem ausgemachten Juden projektiv angelastet. Letztlich soll dann von der Vernichtung alles „Jüdischen“ das Glück der Welt abhängen.
Gelten in weiblichkeitsfeindlichen Projektionen deren Objekte als minderwertig, aber auch als verführerisch und damit moralisch zersetzend, wird Jüdinnen und Juden darüber hinaus eine globale Übermacht unterstellt. Sie steuern angeblich die weitgehend abstrakten und anonymen Herrschaftsverhältnisse der Moderne – vor allem Geld und Staaten, Krisen und Kriege. Die Herrschaftsverhältnisse selbst werden zumeist nicht in Frage gestellt, sondern im Abweichenden, Nicht-Identischen stellvertretend bekämpft.
Das Thema dieser Ausgabe ist also keineswegs beliebig gewählt, sondern für die Kritik der falschen und hochgradig widervernünftigen Gesellschaft wesentlich, was zugleich notwendige Voraussetzung für deren Überwindung ist: für eine Gesellschaft, die universale und damit individuelle Freiheit erst ermöglicht, wo man also mit allen Konsequenzen „ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno 2003: 116).
I Kollektiver Narzissmus und Postnazismus
Mit den historischen Niedergängen islamischer Imperien kommt es zu kolonialer und darauf aufbauend kapitalistischer Marginalisierung der Region. Diese Unterlegenheit ist auch abseits der realen Verheerungen offenkundig eine schwere Kränkung der ApologetInnen islamischer Herrschaft. Dabei werden auch die Ideale universeller Freiheit von der islamischen Reaktion und ihrer post-kolonialen Schützenhilfe auf den Müllhaufen der möglichen Menschwerdung geworfen.
Seinen vorläufigen Höhepunkt gewinnt dieser Kampf (Djihad) über die Allianz mit dem Nationalsozialismus. Letzterer liefert massive militärische und propagandistische Unterstützung – gegen den gemeinsamen Feind, also alles Westliche und Moderne, personalisiert im ewigen Juden. So sieht sich die verbliebene jüdische Bevölkerung nur drei Jahre nach dem formalen Ende des Nationalsozialismus erneut in ihrer schieren Existenz bedroht. Noch in der Gründungsnacht des israelischen Staates am 14. Mai 1948 leiten Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien, Jordanien, der Libanon und der Irak einen als solchen erklärten Vernichtungskrieg gegen Israel ein. Als führende Experten für Propaganda, Folter und Vernichtung sind nationalsozialistische Veteranen daran maßgeblich beteiligt. Doch der Angriff kann bekanntlich unter schwierigsten Bedingungen zurückgeschlagen werden.
Die Niederlage gilt vielen Besiegten fortan als Nakba („die Katastrophe“). Dieser Mythos des „Holocaust an den Palästinensern“ dient als Relativierung der tatsächlichen Shoah und damit der Legitimierung ihrer Fortsetzung. So wird Antisemitismus vielfach konstitutiv für die Staaten im Nahen Osten. Auch nationale und/oder islamische Despotie sowie entsprechender Militarismus und Aufrüstung gewinnen dabei eine verschärfte Priorität vor reproduktiven Bedürfnissen. Die Ideologie des Opfers bleibt virulent, weitere Vernichtungsversuche folgen: 1956 (Suezkrise), 1967 (Sechstagekrieg), 1978 (Yom-Kippur-Krieg), die Intifadas und heute vor allem der Terrorexport des iranischen Regimes.
Deren Zurückschlagung erfolgt durch eine wehrhafte israelische Armee, die auch von Frauen, Homosexuellen und Transsexuellen getragen wird. Dies dürfte eine weitere Kränkung für die ApologetInnen des besonders brutalen islamischen Patriarchats darstellen. Auch diesem gilt letztlich alles Weibliche als minderwertig. Permanente Gängelung, ständige Todesdrohungen und statuierte Exempel an AbweichlerInnen bis hin zur systematischen und lebenslänglichen Qual durch Female Genital Mutilitation sind darin überwiegend Normalität.
Zentrales Feindbild des postnazistischen Selbst- und Weltverständnisses ist folglich alles, was individuelle und zumal sexuelle Selbstbestimmung ist oder zu sein scheint, was als „westlich“ gilt und die Kollektive erst zersetze.
II Narzissmus und Gesellschaft
Sigmund Freud schreibt in der Traumdeutung über den Narzissmus: „Für die uneingeschränkte Eigenliebe (den Narzissmus) des Kindes ist jede Störung ein crimen laesae maiestatis, und wie die drakonische Gesetzgebung setzt das Gefühl des Kindes auf alle solche Vergehen nur die eine nicht dosierbare Strafe“ (Freud GW II/III: 261, Fußnote).
Eine solche Strafsucht aus narzisstischer Kränkung findet sich nun keineswegs allein bei verzogenen Kindern, Staatsherren und IslamistInnen. Tatsächlich scheint der irrationale Hass, nicht selten in der präventiven Verteidigung imaginierter Gemeinschaften, demokratisiert worden zu sein. Das crimen laesae maiestatis – die Majestätsbeleidigung – wurde gewissermaßen zum Menschenrecht auf Beleidigtsein modifiziert.
Natürlich ist Aufklärung im falschen Ganzen letztlich nicht ohne narzisstische Kränkung zu haben. Die entsprechende Psychodynamik läuft daran zumeist vorbei: Ob von Rechts bis Links, ob von opfernarzisstischen Deutschen als Weltmeister der Herzen und der Aufarbeitung, fast alle sehen sich geeint in der sogenannten Israelkritik, die sich in der massiven finanziellen Unterstützung und politischen Legitimierung als Vernichtungswunsch offenbart.
Auch darüber hinaus fühlen sich die „vereinzelten Einzelnen“ (Marx) und gerne auch ganze Gruppen ständig entweder selbst oder stellvertretend für andere notorisch gekränkt und beleidigt: vor allem in ihren religiösen Gefühlen, ihrer Kultur und ihrer Männlichkeit.
„Sie fühlen sich verletzlich und benehmen sich wehleidig, auch wenn sie selbst heftig austeilen. Hinter der Lust an der Selbsterhöhung durch Erniedrigung und Beleidigung anderer steckt die Versagensangst. Das narzisstische Subjekt erfährt sein prekarisiertes Leben als Castingshow, in der es um das Auswählen und das Ausgewähltwerden geht. Es vergleicht sein Vermögen mit dem anderer und leidet an der Drohung des eigenen Unvermögens. Die Konsequenz daraus ist Nötigung zur Verhaltensauffälligkeit: Wer stumm und blass ist, kommt am Runway nicht weiter“ (Edlinger 2016).
Als Arbeitskraftbehältnis austauschbar und dem Verwertungsprozess ausgeliefert, neigen sie zur Identifizierung mit mächtigen Kollektiven, zu kompensatorisch-narzisstischem Größenwahn. Das geht regelmäßig, vor allem in politischen und ökonomischen Krisenzeiten, in regressive Massendynamik sowie damit in irrationalen Hass und Gewaltexzesse über. Hier phantasieren die „ewig Zukurzgekommenen“ (Leo Löwenthal) und die „verfolgende Unschuld“ (Karl Kraus) von politisch rechts bis links die Schuldigen zielsicher im „ewigen Juden“.
Der blanke antisemitische Hass wird im Postnazismus jedoch meist politisch korrekt codiert: es heißt nun „die da oben“, „der Westen“, „USrael“, sie heißen nun Banker und Spekulanten, sie sind nun der leere Signifikant die Macht – seien schuld an was auch immer. Dies wird nicht selten mühelos auf die Fremden, die lüsterne und verführerische Frau und nicht-reproduzierenden ZersetzerInnen komplementär erweitert, welche ebenfalls die heilige Familie und überhaupt die jeweilige imaginierte und reale Zwangsgemeinschaft erst „vergiften“ würden.
Schon weil der Mensch zunächst ein „unermüdlicher Lustsucher“ (Freud) und ein bedürftiges Wesen ohne beliebig ausdehnbare Schmerzgrenzen ist, kann es keine Herrschaft ohne Konflikte und Gewalt geben. Daran werden die nunmehr gespaltenen Subjekte oftmals wahnsinnig. Dieser Zustand ist schwer erträglich und bedarf der Abwehr. Das geht von mehr oder weniger harmlosen Ersatzhandlungen (Sublimierung) bis hin zur pathischen Projektion. Was die deformierten Subjekte und vor allem manifeste AntisemitInnen mehr oder weniger bewusst wollen, lässt sich entsprechend ziemlich genau an dem ablesen, was sie dem Juden unterstellen: Völkermord, Weltherrschaft, Rachsucht, Gier, Lüsternheit und Genussfähigkeit.
Innerhalb der Kollektive, die jene Ressentiments variierend forcieren, haben wir es offenbar mit Subjekten zu tun, die ihre reale Ohnmacht im falschen Ganzen durch narzisstische Großartigkeit, Reinheit und Einheit irrational zu überkommen suchen. Das kann bei Gelegenheit bis hin zur äußersten Gewalt gesteigert werden. Diese weist auch ein instrumentell-rationales Moment auf: vor allem die Opferung anderer aber auch ihrer selbst für den angeblich höheren Zweck – meist Kombinationen aus Ehre der Familie, Männlichkeit und Volksgemeinschaft oder Umma.
Die eigenen Zumutungen werden zu individueller Selbstknechtung, es entsteht ein sado-masochistischer, strukturell-männlicher Charakter. Dieser weist notwendig paranoide Elemente auf, weil er ständig die Wiederkehr des Verdrängten, speziell weiblicher Triebwünsche, fürchten muss und zu echtem menschlichen Kontakt, zu so etwas wie Hingabe ohne Märtyrium, fast unfähig ist. Die permanente Suche nach Objekten zur Abreaktion wird oft zur Obsession. Die Libido bleibt indes primär auf das (imaginäre Größen-)Selbst fixiert und verarmt dadurch.
Bei den maßgeblichen Entstehungsbedingungen solcher Subjekte haben wir es demnach – in Form abstrakter und konkreter Herr-schaft sowie der immer damit verbundenen Gewalt, Ideologie und materiellen Verknappung – exakt mit demjenigen zu tun, was letztlich unnötiges menschliches Leid bedeutet und für den Übergang in einen wahrhaft menschlichen Zustand aufzuheben wäre. Es bleibt die drängende ideologiekritische Frage, warum diese objektive Möglichkeit kaum angestrebt wird und die Menschheit stattdessen wiederkehrend in Formen der Barbarei versinkt (Adorno/Horkheimer 2000).
Wir möchten daher in dieser Ausgabe der Gezeit einen Beitrag zur Klärung der Interferenz von Antisemitismus und Geschlechterverhältnis leisten, wobei nicht alle Beiträge auf einer Rezeption der Kritischen Theorie beruhen. Entsprechend besteht innerhalb der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften, als Herausgeberin der Gezeit, keine Einigkeit über alle Inhalte der Beiträge.
III Zu den Beiträgen
Wir beginnen diese Gezeit mit dem Artikel von Max Rigele, der zur historischen Entstehung von Antisemitismus und Sexismus schreibt: „Wer die Hexen jagt, der jagt auch die Juden“.
Der zweite Beitrag ist ein Interview von Sandra Jurdyga mit Karin Stögner, in welchem grundsätzliche Aspekte der Interferenz von Sexismus und Antisemitismus anhand der Chancen und Probleme einer intersektionalen Herangehensweise angesprochen werden.
Im dritten Artikel skizziert Colin Kaggl die konstitutive Neigung der autoritären und speziell männlichen Persönlichkeit zu Antisemitismus und Misogynie. Die Kritische Theorie ist auch hierfür unverzichtbare Grundlage.
Brigitte Temel schreibt über das Verhältnis der Linken zur „Boycott – Divestment – Sanctions“-Bewegung und zu Israel, wobei letzteres bekanntlich maßgeblich feindselig geprägt ist.
Dann widmet sich Till Amelung einem Aspekt linker Verschwörungstheorie namens Pinkwashing, wonach die israelische Politik Rechte für LGBT zur Kaschierung der vermeintlichen „Unterdrückung des palästinensichen Volkes“ nutze.
Der sechste Artikel ist eine psychoanalytische Abhandlung von Yasemin Makineci zum Trauma durch den Nationalsozialismus. Als Beispiel dienen hierzu in Israel verfasste pornographische Groschenromane, die als Bearbeitungsversuche jener Traumatisierungen untersucht werden.
Tom Uhlig widmet sich in seinem Artikel dem Antisemitismus in queerfeministischen und postkolonialen Zusammenhängen, während Frederike Schuh anhand der Probleme und des Forschungsstandes der Erkenntnistheorie über die Entstehung wahnhafter Wahrnehmungsmuster schreibt.
Unsere GenossInnen aus Berlin Bertolt Specht und Lilli Brandt zeigen schließlich am Beispiel des Otto-Suhr-Instituts sehr eindrücklich, wie sich bürgerliche Subjekte durch den gemeinsamen Feind vereint finden.
Den Abschluss macht Colin Kaggl mit einem Kommentar zur inhärenten Menschenfeindlichkeit des Islam und dazu, wie diese speziell von der politischen Linken als revolutionäres Subjekt aufgeladen wird.
Literatur
Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max (2000). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Adorno, Theodor W. (2003): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Edlinger, Thomas (2016): Ich bin beleidigt, also bin ich. http://www.zeit.de/kultur/2016-04/beleidigungen-jan-boehmermann-dieter-bohlen-recep-tayyip-erdogan/komplettansicht (20.6.2017)
Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. GW II/III, 3. Aufl. 1961. London: Imago Publishing.
Küntzel, Matthias (2003): Djihad und Judenhaß. Über den neuen antijüdischen Krieg. Freiburg: ça-ira.
Radonic, Ljiljana (2004): Die friedfertige Antisemitin? Kritische Theorie über Geschlechter verhältnis und Antisemitismus. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Stögner, Karin (2014): Antisemitismus und Sexismus. Historisch-gesellschaftliche Konstellationen. Baden Baden: Nomos
Tenenbom, Tuvia (2014): Allein unter Juden. Eine Entdeckungsreise durch Israel. Frankfurt am Main: Suhrkamp.