Interview mit Karin Stögner.
Jurdyga: Boycott, Divestment, Sanctions (kurz: BDS) ist eine Kampagne, die 2005 mithilfe von 171 pro-palästinensischen Organisationen entstand. Laut eigenen Aussagen ist es ihr Ziel, mittels akademischer, kultureller und ökonomischer Boykotte, Rechte für Palästinenser_innen in Israel einzufordern, sowie die „Besetzung und Kolonialisierung arabischen Landes“ durch Israel aufzuheben.1 Mittlerweile wird die Kampagne international von verschiedenen Einzelpersonen und Organisationen unterstützt.
Palestinian Queers for BDS (QPBDS) ist eine Organisation, die BDS unterstützt und sich aus verschiedenen queeren pro-palästinensischen Aktivist_innen zusammensetzt. Gemeinsam mit der Gruppe Pinkwatching Israel kritisieren sie, dass Israel mittels des Hochhaltens von LGBT-Rechten nicht nur von der Unterdrückung der Palästinenser_innen ablenke, sondern auch arabische und palästinensische Gesellschaften als rückschrittlich, repressiv und intolerant darstelle.
Hier stellt sich die Frage, wo der Zusammenhang zwischen den „Gräueltaten gegen Palästinenser_innen“2, wie es Pinkwatching Israel nennt, und der Rechte von LGBTIQ in Israel besteht. Wo ist der Sinn und Zweck einer Herstellung solch eines Zusammenhanges?
Stögner: Queer BDS operiert im Grunde genau mit dem kulturalistischen Diskurs, den es Israel vorwirft. Zusammengehörigkeit stiftet nicht das Queer-Sein, sondern das Palästinenser_innen-Sein. Deshalb wollen die Aktivist_innen von alQaws auch nicht mit israelischen LGBTIQ zusammenarbeiten, da es sich um zwei unterschiedliche Gesellschaften mit unterschiedlichen Kulturen handelt. Der palästinensischen fühlt man sich zugehörig, der israelischen nicht. Kultur sticht also sexuelle Orientierung, selbst wenn diese in der anderen Kultur bessere Bedingungen der Anerkennung findet. Queer BDS eröffnet die Möglichkeit, die eigene Viktimisierung zu thematisieren und die eigene Kultur dabei zu schonen, indem die sexuelle Unterdrückung auf einen Schuldigen externalisiert wird, der die eigene Kultur bedroht. Solche Ambivalenz der Identität, die zwischen sexueller Befreiung und kultureller/religiöser Gebundenheit schwankt, ist kein palästinensisches Spezifikum, sondern eine recht allgemeine Problematik, mit der auch LGBTIQ anderswo konfrontiert sind. Den palästinensischen LGBTIQ bietet sich aber die universelle Projektionsfläche Israel, mit Hilfe derer der Konflikt scheinbar gelöst werden kann: der eigene Anspruch auf sexuelle Diversität bleibt aufrecht und auch die eigene Kultur, denn es sind in dieser Sicht einzig Israel und die Besatzung, die der Entfaltung von beiden im Weg stünden.
Palästinensische Aktivist_innen von Queer BDS möchten sich offensichtlich als Teil der palästinensischen Gesellschaft sehen und finden Einheit mit dieser durch das gemeinsame Feindbild, das die realen Konflikte innerhalb der palästinensischen Gesellschaft übertüncht. Was immer palästinensische LGBTIQ von der palästinensischen Mainstream-Gesellschaft trennen mag, welche Unterdrückung sie auch immer in der eigenen Gesellschaft erfahren mögen, das Einende mit dieser Gesellschaft bleibt die Erfahrung der Unterdrückung durch die israelische Besatzung. Die Utopie aus dieser Sicht ist, dass mit dem Verschwinden Israels von der Landkarte eine Lösung für die queere Problematik gefunden sei. Wenn Palästina erst dekolonisiert sei, dann hätte man eine Gesellschaft, auf die LGBTIQ sich verlassen könnten und die sexuelle Diversität und Andersheit respektieren würde. Dies ist alles nachzulesen auf der Homepage von alQaws.
Jurdyga: 2012 organisierte QPBDS Panels zum Thema „What is Queer BDS? Pinkwashing, Intersections, Struggles, Politics“, in der unter anderem auch Angela Davis einen Vortrag hielt. Davis ist eine feministische Theoretikerin und verortet sich selbst auch in der Kritischen Theorie. Wie lässt sich ihre Unterstützung von BDS anhand ihrer politischen Positionen und ihrer theoretischen Ansätze erklären?
Stögner: Es ist unmöglich, Angela Davis’ Unterstützung von Queer BDS aus der Kritischen Theorie heraus zu erklären, der sie sich ja nach wie vor zurechnet. Ein Stück weit erklärbar wird ihr Zugang durch die Brüche, die sich zur Kritischen Theorie auftun: Kurz gesagt lässt Davis das Prinzip der Kritischen Theorie, die Dialektik und die damit verbundene immanente Kritik fahren, mit welcher allein aber der gesellschaftliche Widerspruch gefasst werden kann. Aus dieser „Verkürzung“ der Kritischen Theorie ergibt sich eine Komplexitätsreduktion, die dem Charakter des Gegenstandes nicht gerecht wird
Jurdyga: Angela Davis setzt sich in ihren Arbeiten unter anderem für eine intersektionale Perspektive ein, die verschiedene Macht- und Herrschaftsverhältnisse und deren Verwobenheit miteinander ins Zentrum stellt. Oftmals zeigt sich in dieser Betrachtungsweise jedoch, dass Antisemitismus und Antizionismus in diesen Debatten nicht thematisiert werden. Was wären für Sie vorstellbare Gründe, warum dies meist passiert?
Stögner: Queer BDS gibt vor, in einer intersektionalen Perspektive Homophobie nicht außerhalb der Bedingungen von Besatzung und Kolonisation sehen zu können. Wie dieses Ineinandergreifen aber tatsächlich aussieht, darüber geben die Texte von Queer BDS wenig Auskunft. Vielmehr geschieht genau das Gegenteil von Intersektionalität: Die höchst komplexe Problematik der Möglichkeit und Unmöglichkeit queerer Lebensweise von Palästinenser_innen wird eingeengt auf die Besatzung, ohne dass jedoch rational argumentiert wurde, warum und in welcher Weise dieser Konflikt den Konflikt um Geschlecht und Sexualität innerhalb der palästinensischen Gesellschaft strukturieren würde.
Abgesehen davon zeigt die Variante der Intersektionalitätsdebatte, die hier angewendet wird, eine Schwachstelle, indem der Fokus auf eine bestimmte Vorstellung von Ethnizität eingeschränkt wird, die sich an der hegemonialen Unterscheidung von „schwarz“ und „weiß“ orientiert. Dieser Blickwinkel ist der Entstehungsgeschichte des Konzepts im US-amerikanischen Civil Rights Movement und im Black Feminism geschuldet und macht vor dem Hintergrund massiver rassistischer Diskriminierung und Unterdrückung in den USA Sinn. Wird jedoch an der Trias race – class – gender exklusiv festgehalten, vermag das Konzept nicht die umfassende Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung von Juden und Jüdinnen im globalen Antisemitismus zu fassen. Vielmehr gelten Juden und Jüdinnen aus dieser Sicht implizit als weiß, wodurch ihnen auch die Anerkennung als global diskriminierte Minderheit mit special interests vorenthalten bleibt.
Jurdyga: Ist es Ihrer Meinung nach möglich, Antisemitismus und Antizionismus in die Intersektionalitätstheorie aufzunehmen? Ist dies überhaupt sinnvoll?
Stögner: Intersektionalität setzt sich zur Aufgabe, verschiedene Unterdrückungs- und Ungleichheitsmechanismen in der Gesellschaft in Relation zueinander zu analysieren. Mit ihr kann im Sinn der Kritischen Theorie ein umfassendes Bild der gesellschaftlichen Totalität und des vielschichtigen gesellschaftlichen Widerspruchs gewonnen werden. Bei BDS-Diskursen ist aber zu beobachten, dass Intersektionalität nicht als analytisches Instrument verstanden wird, mit dessen Hilfe die vielschichtigen Zusammenhänge von Unterdrückung und Ausgrenzung kritisch durchdrungen werden können. Stattdessen wird Intersektionalität zum politischen Slogan und für politische Zwecke instrumentalisiert. Es ist aber durchaus sinnvoll, Intersektionalität als analytisches Konzept für eine kritische und feministische Theoriebildung zu bewahren und es für verändernde Praxis offen zu halten. Es wäre schade, hier das Feld einer politischen Rhetorik und Agitation zu überlassen, die unter dem Deckmantel von Diversität und globalen Menschenrechten erneut diskriminierend gegen eine bestimmte Gruppe agiert.
Demgegenüber plädiere ich für eine Rückbesinnung auf die analytische Kraft eines intersektionalen Zugangs, der eine dialektische Theorie der Gesellschaft erfordert, und aus dieser Sicht ist der Antisemitismus durchaus integrierbar. Die Kritische Theorie sieht den Antisemitismus als Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft als Ganzes, betrachtet jedoch seine ideologische Nachbarschaft nicht als zufällig. Deshalb bezogen Horkheimer und Adorno Antifeminismus, Homophobie, Nationalismus, und die Klassenverhältnisse zentral in die Analyse des Antisemitismus mit ein. Seine Flexibilität als Welterklärung gewinnt er gerade auch dadurch, dass er von Momenten anderer Ideologien durchdrungen ist. In meinen eigenen Arbeiten zu Intersektionalität folge ich dieser Erkenntnis, indem ich nicht nur auf die Ebene derer fokussiere, die von Diskriminierung und Unterdrückung betroffen sind und nicht nur auf die individuelle Ebene der Identitätsbildung, sondern zentral die strukturelle Ebene der Ideologiebildung und auch die Ebene der autoritären Persönlichkeit einbeziehe, also auch auf jene fokussiere, die bereitwillig exkludierenden und diskriminierenden Ideologien folgen. Ich nenne das die Intersektionalität von Ideologien. Und dann stellt sich die Frage nach der Funktion dieser ineinandergreifenden Ideologien. Diese ist wesentlich die implizite Rechtfertigung ungerechter Zustände, die einseitige Auflösung eines komplexen gesellschaftlichen Widerspruchs und die Externalisierung oder Projektion von Momenten des Eigenen auf einen vorgefertigten Anderen. Antisemitismus, Nationalismus, Rassismus, Xenophobie, Sexismus und Homophobie stehen allesamt im Zeichen solcher Komplexitätsreduktion und Externalisierung des Eigenen, wobei die zwar verwandten, aber doch je unterschiedlichen Projektionen, die beispielsweise im Rassismus einerseits und im Antisemitismus andererseits stattfinden, zu differenzieren wären. Das „Andere“ trägt dabei seinerseits Züge der Ambivalenz, da es nicht nur ungewollte Elemente des Eigenen widerspiegelt, sondern auch insgeheim begehrte, aber gesellschaftlich nicht zugelassene. Das zeigt sich deutlich, wie erwähnt, an Diskursen von Queer BDS, in denen die gesamte Problematik von Gender und Sexualität auf einen einzigen Fremden, nämlich Israel, projiziert wird.
Fußnoten:
1: https://bdsmovement.net/what-is-bds, letzter Zugriff: 30.04.2017.
2: http://www.pinkwatchingisrael.com/about-us/, letzter Zugriff: 30.04.2017.