Erkenntnistheorie als Ideologie.
Wo von der Empirie nicht gestützte Vorannahmen den Blick auf die Fakten verstellen – und nicht wie es für Hypothesen üblich ist, aus bereits vorhandenem Wissen eine Perspektive entwickelt wird, auf die hin die Lage untersucht werden kann, woraufhin die Hypothese entweder verworfen oder modifiziert wird – spricht die Vice Epistemology von bias. Die Voreingenommenheit kann ebenso gut rassistisch wie sexistisch motiviert sein, im Namen einer bestimmten wissenschaftlichen Schule oder eines Forschungsprogramms auftreten und sich den damit verbundenen Annahmen entsprechend selektiv gegenüber den verfügbaren Fakten verhalten. Die Analyse der darin aufscheinenden wissenschaftlichen Unredlichkeit als bias verstellt allerdings selbst wiederum, um was es sich dabei jeweils handelt und wie es zu bewerten wäre. So ist es symptomatisch, dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob es sich beim bias an sich überhaupt um etwas Schlechtes handelt, oder ob nicht erst eine inhaltliche Prüfung darüber Auskunft geben kann, weil eben begründete Selektivität in Bezug auf die verfügbaren Fakten durchaus der erkenntnistheoretischen Redlichkeit entspringt und der wissenschaftlichen Produktivität dienlich ist.
Von der Ideologie, aus der maßgebliche Varianten des bias hervorgehen, will die Vice Epistemology jedenfalls nichts wissen. Voreingenommenheit wird als Charaktereigenschaft und die Subjekte potentieller Erkenntnis als atomisierte Einzelne verstanden, die miteinander nur lose in Beziehung stehen und sich auf eine gemeinsam geteilte Welt nur insofern beziehen, als sie einander epistemic peers sind. Besonders verbreitet ist die Vorstellung von der intellektuellen Faulheit derjenigen, die einem bias anhängen, der aus Sicht der jeweiligen Autorinnen illegitim ist. Das aber bedeutet, den Ursprung des Problems unberührt zu lassen und sich stattdessen an seinen unzählbaren Symptomen abarbeiten zu müssen, ohne Aussicht auf langfristigen, weitreichenden oder auch nur nennenswerten Erfolg.
Der grundsätzliche Fehler ist dabei, Erkenntnis und ihre Genese als unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen zu denken, und zu verkennen, dass Subjektivität und Objektivität jeweils nur als miteinander vermittelt in Erscheinung treten können. Das heißt, es handelt sich um die Frage nach der Beziehung von Besonderem und Allgemeinen, um die Frage, wie diese Beziehung gedacht werden muss, wenn objektive Erkenntnis das Ziel ist. Allerdings ist bereits die Annahme, dass es eine solche Beziehung überhaupt gibt, eine Unterstellung. Kant spricht in diesem Zusammenhang von der erkenntnistheoretischen Brille, die uns überhaupt erst ermöglicht, die Welt sinnvoll zu erfassen; welche wir also nicht absetzen können, um herauszufinden, inwiefern diese verzerrt was wir sehen, weil wir es ohne diese Brille nicht mehr verstehend erfassen könnten.
Eines der prominentesten Projekte das Problem zu lösen, stammt aus dem logischen Empirismus des 20. Jahrhunderts. Protokollsätze oder empirische Beobachtungssätze sollten aus nichts weiter als aus der Erfahrung stammender Eindrücke bestehen und damit noch nichts über das erkennende Subjekt, das erkannte Objekt oder deren Verhältnis voraussetzen. Interessant ist dabei, dass die Idee einer Wahrnehmung der Form „hier – jetzt – x“ bereits aus dem 6. Jahrhundert stammt. Der Philosoph und Theologe Boethius versuchte so in Trost der Philosophie das Theodizee-Problem zu lösen. Die Überlegung ist, dass Gott zwar allwissend sei, da aber sein Wissen in dieser Struktur verankert ist (stehendes Jetzt) kann aus ihr keine Handlung, kein Eingreifen im Sinne der Allmacht bzw. Allgüte Gottes abgeleitet werden. Wissen als Motivation für Handlungen, als Grundlage der Bezugnahme auf die Welt kann so nicht generiert werden.
Was die Welt im Innersten zusammenhält bleibt eine offene Frage. Prototypisch beantwortet wird sie von der Religion. In ihr rechtfertigt das Allgemeine das Besondere, als Aspekt des Allgemeinen, das sich in ihm ausdrückt; das Besondere hat nicht bloß Teil am Allgemeinen, es ist Teil von ihm. Im Allgemeinen ist alles Besondere bereits enthalten, die Differenz bloße Konsequenz der vielfältigen Verwirklichung des Allgemeinen, die im Vergehen des Besonderen – das sich ja gerade durch seine Vergänglichkeit auszeichnet – in das Allgemeine zurückgenommen wird. Mit dem Tod Gottes – der schon von Hegel in der Phänomenologie des Geistes dokumentiert wird – ist dieser Illusion des Allgemeinen als überindividueller, vollumfänglich autonomer Subjektivität, die die einzelnen, situierten und verkörperten Subjektivitäten in sich vereint, eine Absage erteilt.
Statt aber hier den Ursprung der Freiheit zu erkennen, die „an den individuellen Leib und dessen innere Regungen gebunden sowie den äußeren Zwängen, die auf den Leib ausgeübt werden, ausgeliefert ist“,1 und entsprechend auf genau der Pluralität fußt, die sich erst durch die Absage an eine vermeintlich vorgängige Einheit verwirklichen kann, durch die Erkenntnis, „daß die Wahrheit ständig neu erkannt werden muss“.2
Adorno und Horkheimer sprechen diesbezüglich in der Dialektik der Aufklärung vom Antisemitismus als Luxus, wobei der Luxus in der vermeintlichen Erlösung aus der Komplexität lebensweltlicher Konflikte besteht, die dann gerade nicht ‚ständig neu‘ betrachtet werden müssen. Der Preis einer solchen Ideologie besteht darin, diese Komplexität nicht mehr erfassen und verarbeiten zu können und sie da, wo sie sich aufdrängt nur als Angriff auf die intellektuelle Reinheit gewertet werden kann und entsprechend abgewehrt werden muss, mit dem besonderen Trick: die Kosten sind real, während das Versprechen nicht eingelöst werden kann, egal wie sehr die Apologetinnen der Ideologie sich bemühen es wahr zu machen. Das Bedürfnis, die Ideologie wahr zu machen, drückt sich sowohl bei Antisemitinnen, als auch bei Antifeministinnen und zentralen Repräsentantinnen der Postmoderne im Hass auf Körper aus: Bei Antisemitinnen primär im Hass auf als jüdisch-identifizierte, bei Antifeministinnen primär im Hass auf als weiblich-identifizierte Körper, und in der Postmoderne im Hass auf Körper und Körperlichkeit selbst. Es ist die Ahnung, dass Körper eine Wahrheit enthalten könnten, die es um jeden Preis zu unterdrücken gilt. Sie erinnern an Subjektivität als Individuierte, die entsprechend verantwortet werden muss, und das wird zu einer solchen Zumutung, die wahnhaft im selben Maße bewacht wie verdrängt, mystifiziert wie erniedrigt, werden muss.
Im Namen dieser Unterdrückung stehen dann Versuche, die individuellen Körper der jeweils imaginierten schuldigen Identität zu beherrschen, zu verleugnen, zu foltern oder gleich zu vernichten. Der bürgerliche Staat – Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie – der dem entgegensteht, wird daher so-wohl von antisemitischen als auch von antifeministischen und postmodernen Ideologinnen als illegitimer Vermittler des Allgemeinen identifiziert. Dem wahlweisen Volk, welches Glaubens- oder internationale Gemeinschaft genannt wird, aber immer als „gigantische Über-Familie“3 vorgestellt wird, und dessen vermeintliche gemeinsamen (ökonomischen) Interessen steht der bürgerliche Staat mit seiner Pluralität entgegen. Das setzt bereits voraus, was es überhaupt erst zu beweisen gälte, dass nämlich die Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem über Interessen geschieht. Das Allgemeine selbst, das hier vermittelt wird – nämlich das Kapitalverhältnis – kann so nicht mehr in Frage gestellt werden. Die kantische Frage Was kann ich wissen?, die auch formuliert werden kann als: Was ist die Voraussetzung dafür, dass ich als Subjekt so konstituiert bin, dass ich mich zu einem potentiellen Objekt der Erkenntnis so ins Verhältnis setzen kann, dass dabei Wissen entsteht, und was bedeutet das für die Konstitution jenes Objekts?, wird bedeutungslos, weil sie Vermittlung nicht in der vermeintlichen Unmittelbarkeit von Interessen ausdrückt, sondern vielmehr darauf hinweist, dass eine solche Unmittelbarkeit, mithin ein unschuldiges Subjekt der Erkenntnis, nicht möglich ist.
So zeigt sich, dass es nicht intellektuelle Faulheit ist, die dem ideologisch motivierten bias zugrunde liegt, sondern vielmehr die Unfähigkeit die „menschliche Transzendenz4 […] zu begründen, obgleich es ihr versagt ist, sich je zu vollenden“5. Diese wahnhafte Abwehr – nicht nur erkenntnistheoretischer – Verantwortung, muss als Aspekt kapitalistischer Vergesellschaftung verstanden werden, insofern diese verlangt, dass Rechtfertigung letztlich in ökonomischen Begriffen zu erfolgen habe. Bestimmend ist die Frage nach dem ökonomischen Nutzen von Erkenntnissen, Tätigkeiten und Erfahrungen, wobei dem Wort ‚nützlich’ ein universaler, absoluter Sinn6 zugewiesen wird, der außer Acht lässt, dass ‚nützlich’ gerade nur im Hinblick auf einen Zweck zu bestimmen ist. Dies führt nicht nur zum Sinnverlust, sondern auch zum Verlust „des Bedürfnisses zu verstehen“7 selbst.
Infolge der Verunmöglichung der Frage nach dem Sinn, stellt kapitalistische Vergesellschaftung die Autonomie der Vernunft in Frage, deren Pointe eben darin besteht, dass sie sich durch nichts äußerliches, sondern nur durch sich selbst begründen kann. Sie kann – und darf – sich gerade nicht auf ihre Zweckmäßigkeit berufen, sondern ist unmittelbar mit dem vernünftigen Individuum selbst verbunden, dass sich im Vollzug der Vernunft als Selbstzweck setzt. Das revolutionäre Subjekt ist demnach nicht einfach das Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher Umstände, sondern vielmehr eine spezifische Form der Subjektwerdung, die als solche revolutionär ist, weil in ihr Subjektivität und Objektivität als laufend miteinander vermittelt erkannt werden können. Das wiederum bedeutet: es geht nicht um eine einmalige ‚Bewusstwerdung’, sondern um einen konstanten Prozess. Epistemologisch gewendet: „what we do shapes and constrains what we can know“8 – und zwar parallel zur ewigen Bewegtheit des Lebensprozesses, die nur regressiv, d.h. ideologisch, stillgestellt werden kann. Diese Bewegung entzieht sich der Verdinglichung von Vernunft zu Rationalität, die dann nur noch als spezifische Rationalität innerhalb eines bestimmten Nutzenkalküls aufscheinen kann, ohne Auskunft darüber geben zu können, ob dieser Nutzen gerechtfertigt ist.
Das aber heißt, dass, von der Erfahrung auszugehen, immer bedeuten muss, von der Pluralität der Erfahrung auszugehen, deren Entstehungsbedingungen in den Erkenntnisprozess mit einzubeziehen, und der Illusion unmittelbarer, unschuldiger Erfahrung eine Absage zu erteilen. Subjektivität gibt es nicht als singuläre Entität, unabhängig von Anderen und Anderem; es gibt sie, genauso wie Objektivität, nicht als ‚fertige’, sondern nur als sich ständig rechtfertigende, ständig sich selbst in Frage stellende. Auch aus erkenntnistheoretischer Perspektive gilt es also, sich für gesellschaftliche Verhältnisse einzusetzen, die die ideologische Illusion überflüssig machen, indem sie ihrer nicht mehr bedürfen.
Fußnoten:
1: Dahlmann, Manfred: „Freiheit und Souveränität – Kritik der Existenzphilosohie Jean-Paul Sartres“. Ça ira, Freiburg, 2013. S.63.
2: Ebd. S.83.
3: Arendt, Hannah: „Vita Activa – oder vom tätigen Leben“. Piper, München, 1967. S.39.
4: Transzendenz ist die Überschreitung der vorhandenen Wirklichkeit in der Reflexion auf deren vorgefundene Einrichtung in Konfrontation mit deren Potential. Mit Marx: Transzendenz begegnet uns im Reich der Freiheit, in Abgrenzung zum Reich der Notwendigkeit.
5: Beauvoir, Simone de: „Soll man de Sade verbrennen? – Drei Essays zur Moral des Existentialismus“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1964. S.169f.
6: Vgl. ebd. S.156.
7: Vgl. Arendt, Hannah: „Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen Denken I“. Piper, München, 1994, S.120.
8: Harding, Sandra: “Epistemological Questions”. In: Harding, Sandra (ed.): “Feminism and Merhodology – Social Science Issues”. Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis, 1987, p. 181-193. p.185.