Ankreuzen oder anzünden: über Wahlfreiheiten, Basis und Demokratie auch an der Uni Wien
„Wahlen können den Eindruck erwecken, Einfluss auf die Politik zu haben“ – was wollen uns die Menschen sagen, die diese zynischen Aufkleber an Laternenpfählen und auf Kneipenklos verteilen? Soll im Stil der Hinweise auf Zigarettenpackungen vor einer Gefahr gewarnt werden, die im Grunde allen bekannt ist, die aber größer ist als sie in unserem Bewusstsein aufscheint? Und was heißt eigentlich „Wahlen“? Alle Wahlen? Nur politische Wahlen? Oder sind am Ende alle Wahlen politisch? Und warum haben sie dann keinen Einfluss auf ‚die Politik‘?
Die Definition des Begriffs „Politik“ als das parlamentarische Geschehen in der Parteienlandschaft und ihrem direkten Umfeld umfasst nur einen kleinen Teil seiner eigentlichen Bedeutung.
Bedürfnisse und Interessen sind in einer Gesellschaft immer politisch, da so genannte individuelle Absichten immer auch andere Menschen betreffen. Sie entstehen aus einer Gesellschaft heraus und wirken – ob verwirklicht oder nicht – auf diese zurück. Werden diese Interessen auf demokratische Weise definiert und verfolgt, wird erkennbar, wie bedeutsam die Unterscheidung in „politische“ und „unpolitische“ Themen und Betätigungsfelder ist.
Nadelöhr Repräsentation
Eine spannende Frage ist, in welchem Rahmen sich Wahlen – in postuliert demokratischen Gesellschaften überhaupt abspielen. Normalerweise finden sich Menschen, die an einem durch Wahlen legitimierten Politikbetrieb teilnehmen und -haben möchten, zu Interessengruppen zusammen – zu Parteien. Da sich aus der Mitgliederzahl einer solchen Partei ihre Möglichkeit zur Mitsprache und damit zur Einflussnahme ergibt, sind die inhaltlichen Ansprüche in relativ weit gefassten Parteiprogrammen beschrieben.
Bei einer Wahl werden nun einzelne Personen zu Vertreter_innen der Partei- Gruppen-Interessen bestimmt, die selbige dann gegenüber den Gegenseiten verteidigen und durchsetzen sollen. Meinungen außerhalb der demokratischen Opposition werden bei und nach diesem Prozess nicht berücksichtigt.
Bedürfnisse werden also als Interessen zuerst von einer Gruppe gebündelt auf Stellvertreter_innen übertragen, die diese umsetzen sollen. Die Menschen, die die_den Stellvertreter_in durch ihre Wahl beauftragen, sind in diesem Fall nicht unbedingt identisch mit jenen, die von ihrer_seiner Arbeit betroffen sind. Dass es dabei zu Verzerrungen und Auslassungen kommt, ist auch ohne Absicht einzelner Beteiligter unumgänglich.
Wer und was nicht gefragt wird
Dazu kommt, dass nach parlamentarisch-demokratischen Grundsätzen nur jene Stellvertreter_innen, beziehungsweise Parteien, die die Mehrheit der abgegebenen Stimmen „besitzen“, das Regierungsgeschehen aktiv gestalten können.
Konflikte um vielfältige und kontroverse Ansichten werden auf Seiten der Minderheit, vor allem aber auf jener der Mehrheit scheinbar aufgelöst. Der „Minderheit“ bleibt die Rolle der Opposition, sie ist also im Laufe einer Legislaturperiode lediglich befugt, auf Handlungen der Mehrheit zu reagieren. Hier besteht die Gefahr, dass eine kritische Auseinandersetzung nicht nur mit Ergebnissen, sondern auch mit Beweggründen für Regierungsentscheidungen zu kurz kommt, denn die Mehrheit bestimmt die demokratische Ordnung: „Ist den BefürworterInnen der Mehrheitsposition erst einmal klar, daß ihre Position eine Mehrheit erhalten wird, so können sie oft den Abstimmungsprozeß beschleunigen, die Diskussion um die Bedenken der Minderheit abbrechen. In größeren Zusammenhängen entstehen häufig ständige Minderheiten, die von den Beschlüssen einer ständigen Mehrheit zunehmend ausgegrenzt und unterdrückt werden“ (Blackfield 1996). Auch die Situation an der Uni Wien bietet beste Voraussetzungen für solche Unterdrückungs- und Exklusionsmechanismen. Die etablierten Fraktionen bilden, unabhängig vom Wahlergebnis, an sich schon eine solche „ständige Mehrheit“, wodurch eine Diskussion ihrer Legitimation und Sinnhaftigkeit gar nicht erst entsteht.
Der Zugriff auf finanzielle Mittel und politische Infrastruktur (wie auch die Verfolgung persönlicher Karriereinteressen) sind Fraktionsmitgliedern vorbehalten und auch Gruppen und Personen, die keine direkte Verbindung zu Parlamentsparteien haben, müssen sich organisatorischen und damit immanenten prinzipiellen Strukturen anpassen.
Die Nähe der quasi landesweit bei ÖH-Wahlen vertretenen Fraktionen zu den jeweiligen Parlamentsparteien führt außerdem zu dem Eindruck, die Wahrung von „Parteiidentitäten“ stehe oft über der Dis-kussion oder Umsetzung konkreter Inhalte. Personelle und ideologische Unterschiede scheinen einen gewissermaßen traditionellen Zwang zur Abgrenzung der Fraktionen voneinander zu bedingen, der nicht nur die Formulierung, sondern in der Folge natürlich auch die Umsetzung gemeinsamer Interessen verunmöglicht.
Meinungen von Personen, die sich nicht in dieses System repräsentativer Stellvertreter_innen einfügen können oder dürfen, erscheinen hier – wenn überhaupt – lediglich durch Personen, die gewisse Privilegien besitzen. Diejenigen, denen eine offizielle Kandidatur bei den ÖH-Wahlen an der Uni Wien verweigert wird, sind zum Beispiel Nicht-EWR-Staatsbürger_innen. Neben rechtlichen Hindernissen gibt es eine Reihe anderer Gründe, warum eine Kandidatur nicht in Frage kommt, wie zum Beispiel Lohnarbeit, Zeitdruck für den Studienabschluss oder die Pflege von Kindern oder Angehörigen. Die Vertretung von Interessen dieser Personen übernehmen also gegebenenfalls andere, die die jeweiligen Lebensrealitäten nicht selbst kennen – eine denkbar schwierige Aufgabe.
Alternative Basisdemokratie – Möglichkeiten und Begrenzungen
Eine Möglichkeit für Menschen, die aus verschiedensten Gründen keine parlamentarische Vertretung oder Teilhabe wahrnehmen, sind basisdemokratische politische Strukturen. „Unter sozialer Selbstorganisation wird verstanden, daß Individuen, die von Strukturen betroffen sind, Eintreten, Form, Verlauf und Ergebnis des Prozesses der Strukturetablierung selbst bestimmen und gestalten können, indem sie durch Wechselwirkungen auf der Mikroebene Strukturen auf der Makroebene hervorbringen.
Wir können von einem mangelnden Selbstorganisationscharakter repräsentativdemokratischer Modelle ausgehen (…)“ (Fuchs 2001).
Sobald eine solche Gruppe aber bei ihrer Organisation oder der Umsetzung von Gruppeninteressen mit der bestehenden demokratischen Ordnung konfrontiert ist, wie das auch im universitätspolitischen Bereich häufig der Fall ist, werden die grundlegend unterschiedlichen Zugänge zu Politik und Verantwortlichkeit offensichtlich: Im Idealfall wird in basisdemokratischen Gruppen über Vorhaben unter Einbeziehung der Meinungen und Bedürfnisse aller entschieden – um diese umzusetzen, muss aber meist auf bestehende „vertretungsdemokratische“ Strukturen zurückgegriffen werden.
Das bedeutet, dass sich Verantwortliche finden müssen, um bei Verwaltungs- und Entscheidungsstellen Anträge zu stellen, Verhandlungen zu führen oder Rechenschaft abzulegen. Diese Funktion geht über die reine Vermittlung von gemeinschaftlich gefassten Beschlüssen hinaus, da von den „Vertreter_innen“, die von der Gruppe mit einer lediglich kommunikativen Aufgabe betraut sind, gerade bei Anliegen mit Konfliktpotential verlangt wird, selbstständig zu argumentieren und schon aus Zeit- und Platzgründen meist keine Möglichkeit zur Besprechung mit der (Basis-)Gruppe besteht.
Selbstorganisation und -verantwortlichkeit werden durch die Konzentration von Entscheidungsmacht auf Einzelne in solchen Fällen also verhindert, bevor sie Früchte tragen können.
Auch die Trennung von sozusagen hauptberuflichen Vertreter_innen, also (Partei-)Politiker_innen und „Bürger_innen“ (oder auch Studierenden) begünstigt den Umstand, dass sich viele Menschen nicht in der Lage sehen, ihr Recht auf Mitbestimmung wahrzunehmen, beziehungsweise: einzufordern. „Je mehr eine gegliederte Arbeitsteiligkeit existiert mit politischen EntscheidungsträgerInnen samt Verwaltung auf der einen Seite und der Bürgerschaft auf der anderen Seite, je mehr also eine Trennung der Lebens- und Entscheidungsbereiche praktiziert wird, desto eher erlauben die gesellschaftlichen Verhältnisse hierarchische Spaltungen“ (Burnicki 2010). Den Menschen, die sich durch ihre Stimmabgabe mit einem Wähler_innen-Dasein begnügen (müssen), bleiben während der Legislaturperiode wenige Optionen, auf die Handlungen der von ihnen ausgewählten Vertreter_innen zu reagieren.
Was also tun, um ohne Fraktionszugehörigkeit, ohne Parteiidentität und Wahlkampf wirksam für die eigenen Bedürfnisse einzutreten? Wie beschrieben ist es schwierig, ohne die „offiziellen“ Strukturen handlungsfähig zu bleiben. Zu wichtig ist vor allem die finanzielle Unterstützung für Studierendenangelegenheiten, die vom Staat eben nur der ÖH zur Verfügung und Verteilung gestellt wird. Zu gering ist das Gehör für Personen und Initiativen, die keinem Institutionskontext zuzuordnen sind.
Die Entscheidung, das „kleinste Übel“ auf den Kandidaturlisten zu wählen, kann die Arbeit von basisdemokratischen Gruppen erleichtern und angenehmer machen, weil der Zugang zu benötigten Mitteln erhalten bleibt. Wer mit dem Widerspruch leben kann, Sachverhalte zu nutzen und damit zu konsolidieren, die dem eigenen (politischen) Selbstverständnis entgegenstehen, der_dem sei diese Option ans Herz gelegt.
Nicht zur Wahl zu gehen heißt nicht nur auf demokratische Mitbestimmung zu verzichten, sondern auch, nicht weiter von unipolitischer Bedeutung zu sein, sofern mensch sich nicht auf andere Weise engagiert. Wir müssen uns nicht unbedingt für eine Möglichkeit entscheiden, sondern können die Vorteile beider kombinieren.
Wenn durch ÖH-Wahlen etwas verändert werden kann, das über die Farbe der Kopierpickerl hinausgeht, muss die Stimmabgabe als Mittel zum Zweck gesehen werden: die Zeit und Energie, die Stellvertreter_innen in Unipolitik für oftmals praktische Strukturen investieren, können abseits derselben für politische Selbstorganisation genutzt werden. Wenn wir durch Wahlen keinen Einfluss auf die Politik haben, muss unsere Politik Einfluss auf unsere Wahlmöglichkeiten nehmen.
Literatur:
- Burnicki, Ralf: Repräsentative Demokratie oder selbstverwaltete Gesellschaft? Zeitgemäße Gedanken aus anarchistischer Perspektive. Malmö-Printausgabe Nr.48, 12.01.2010.
- Blackfield, Charlie: Mehrheitsdiktatur und Konsensprinzip. Konsensverfahren als anarchistische Alternative zum Mehrheitsprinzip? In: Graswurzelrevolution Nr. 210, 1996
- Fuchs, Christian: Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus. Gesellschaftliche Verhältnisse heute und Möglichkeiten zukünftiger Transformationen. Wien: C.Fuchs 2001.
- Artikel/Interview zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten fraktionsfreier Studierendenvertretung an den Kunstunis: http://fm4.orf.at/stories/1682581/P