Für die Weißseinsforschung ist das Weiße nicht eine bloße Farbe, sondern ein gesellschaftliches Konzept.
Durch das Aufblühen der Kulturwissenschaften im Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsbetrieb hielten viele Disziplinen in die europäische Lehre und Forschung Einzug, wie es in der Form bis Dato nicht denkbar gewesen wäre. Es entstanden interdisziplinäre Forschungsbereiche, die sich mit den Themen Geschlecht und Gesellschaft beschäftigen, postkoloniale Theorien entwikeln oder sich mit der Hautfarbe als gesellschaftlicher Kategorie auseinandersetzen. Was alle drei Bereiche eint, ist deren Nähe zur Postmoderne, vor allem zum Poststrukturalismus, der besagt, dass sich eine Identitätenbildung nur in der Abgrenzung zum Anderen konstituieren und erkannt werden kann.
Die Weißseinsforschung, als kritisches Gesellschaftsprinzip Critical Whiteness genannt, etablierte sich in den 1990er Jahren vor allem in den USA in Verbindung mit den Black- bzw. Afroamericanstudies, einem Forschungsbereich, der sich vor allem mit der Geschichte und der gesellschaftlichen Stellung der AfroamerikanerInnen beschäftigt.
Otto Busse schildert in seinem Text „weiß-sein“ eine Szene aus dem alltäglichen Leben, anhand derer sich die Kernthesen der Weißseinsforschung charakteristisch zeigen lassen. Daniela hat sich beim Gemüseschnippeln in den Finger geschnitten, sie blutet. Daniela holt sich ein Pflaster und verarztet sich.Die Weißseinsforschung stellt sich die Frage, ob der Verlauf eines alltäglichen Ereignisses, in diesem Fall das einfache Schneiden mit einem Messer, für Daniela genauso ablaufen und stattfinden würde wenn sie schwarz wäre. Wäre Daniela schwarz, so könnte sie sich kein Pflaster in ihrer Hautfarbe kaufen, denn in einer Gesellschaft wie unserer ist alles auf die Menschen mit weißer Hautfarbe ausgerichtet. Das weiße Pflaster, das auf ihrer schwarzen Haut kleben würde, würde sie kennzeichnen, würde allen, die an Daniela vorbeilaufen offenbaren: Daniela ist anders als die „Normalen“.
Das Beispiel zeigt, dass viele gesellschaftliche Gegebenheiten, wie etwa das Produkt Pflaster, weiße Privilegien sind. Das Weißsein jedoch als Identität ist nicht eine bloße Farbe.
Es ist ein Konzept, auf das sich das tägliche Handeln und das tägliche Empfinden stützt. Schon Bobby Searle, der Begründer der Black Panther Party, formulierte vor fast 30 Jahren, dass das Weißsein ein soziales Konstrukt sei. Es konstituiert sich am Anderen, am Schwarzen. Es benötigt laut Busse das Schwarzsein, um selbst zu existieren, um die eigene Identität zu entwickeln. Während das Schwarze als das Besondere erscheint, wird im Gegenzug das Weiße zum Normalen, zum Nichtsichtbaren.
Otto Busse schreibt: „Es ist scheinbar keine Farbe und doch alle Farben in Einem, eine Leerstelle und doch universell, alles und nichts zugleich. Weiß-Sein erzeugt das Andere, entzieht sich aber selbst der Definition durch Andere.“
Herrschaft und Kategorienbildung sind für Michel Foucault sowie für den Poststrukturalismus aufs Engste miteinander verzahnt. Das Weißsein, das sich in Abgrenzung zur Kategorie des Schwarzen konstituiert, sich jedoch nicht als eigenständige Kategorie ausdrückt, entwirft und manifestiert ein Herrschaftsverhältnis. Anders als die meisten Wissenschaften versucht die Weißseinsforschung mit ihrem Konzept Critical Whiteness der gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegenzuwirken. Während sie sich vor allem mit der Analyse eines gesellschaftlichen Rassismus auf einer anderen Ebene beschäftigt, ist es ebenfalls ihr Ziel, eine Praxis des Antirassismus zu entwickeln, die sich auf die Erkenntnis des Weißseins als gesellschaftlichem Konstrukt stützt.
Walter Benn Michaels, Professor für Literaturwissenschaften an der University of Chicago, äußert hingegen Bedenken an der Kategorisierung von Schwarz und Weiß und stellt sich in seinem Text „Autobiography of an Ex-White Man. Why Race is not a social construcion“ kritisch mit der These des Weißseins als bloßer gesellschaftliche Kategorie auseinander. Er zitiert zu Beginn seines Textes aus James Weldon Johnstons Werk „Autobiography of an Ex-Colored Man“. Johnston schildert den Unterschied zwischen der Inspiration schwarzer und weißen Musiker, die sich durch schwarze Musik (z.B. Jazz, Blues oder HipHop) inspirieren lassen. Während die von Weißen geschaffene schwarze Musik als Imitation bezeichnet wird, so wird die von Schwarzen erzeugte schwarze Musik als Inspiration interpretiert. „Race Traitor“, das wichtigste Magazin für die Weißseinsforschung, bezeichnete die Imitation als eine Absprache des legitimen Erbes der Schwarzen.
In Johnstons Werk jedoch ist die Rasse die Funktion des Blutes, während „Race Traitor“ die mittlerweile anerkannte These vetritt, dass die Rasse keine „biologische“, sondern „gesellschaftliche“ Tatsache ist. Dadurch wird das „passing“ (Durchgehen oder Passieren) möglich, durch das Schwarze, die ihre auf schwarzen Wurzeln basierende Inspiration vernachlässigen, zu Ex-Schwarzen werden.
Sie werden dadurch zu Imitatoren, ähnlich wie es Weiße sind, die schwarze Musik spielen. Für „Raice Traitor“ scheint es auch möglich zu sein, dass Weiße durch die Identifikation mit den Schwarzen zu Ex-Weißen werden.
Dennoch, während Schwarze ihr Schwarzsein durch die Verheimlichung ihrer Wurzeln verlieren, so können Weiße nur durch die Zerstörung ihrer weißen Identität sich des Weißseins entledigen.
Walter Benn Michaels kritisiert die Auffassung der Rasse innerhalb der Weißseinsforschung dahingehend, dass er darauf insistiert, dass der Begriff „Rasse“ seinen essentialistischen Grundkern behalten muss, wenn Rasse weiterhin als Rasse begriffen werden soll. Ihm geht es selbstverständlich nicht um die Rettung eines Rassebegriffs, sondern er verweist auf die Notwendigkeit, Rasse nicht als gesellschaftliche Kategorie zu begreifen, wenn die gesellschaftlich rassistischen Praktiken aufgespürt und kritisiert werden sollen. Wenn Rasse antiessentialistisch aufgefasst werden kann, dann kann am Begriff der Rasse nicht mehr festgehalten werden, denn er hat für den Rassisten oder die Rassistin notwendigerweise einen essentiellen Kern. Wenn die Rasse notwendigerweise mit einem Essentialismus verknüpft ist, dann ist das oben angeführte Prinzip des „passings“ unmöglich, denn für RassistInnenen bleibt der Schwarze immer noch Schwarz, auch wenn er sich gesellschaftlich nicht schwarz verhält oder gar seine Wurzeln verleugnet. Die Rasse war und ist für den Rassisten oder die Rassistin eine biologische Eigenschaft, die durch eine nachträgliche Erklärung zu einer sozialen Kategorie verharmlost wird.
Weißseinskonzepte haben die Beschäftigung mit der Rasse und dem Rassismus wieder in die akademische Auseinandersetzung geführt. Durch die Etablierung des Poststrukturalismus treffen Interpretationen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein können. Während im angeführten Beispiel Walter Benn Michaels von der Essentialität des Blutes und der Hautfarbe für den Rassisten ausgeht, so guckt die Weißseinsforschung von einem ganz anderen Blickwinkel auf den Rassismus. Sie begreift ihn als Funktion zur Identitätsstiftung des Weißen ohne das Weißsein an sich zu kategorisieren.
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